Willenskraft funktioniert nicht
Kennst du das? Du siehst ein inspirierendes Video auf YouTube und denkst dir: Das will ich unbedingt in meinem Leben umsetzen! Oder du hörst eine bewegende Geschichte in deinem Lieblings-Podcast, die dir richtig unter die Haut geht – und du beschließt: das will und kann ich auch! Von heute an lebe ich endlich so, wie ich es mir wünsche. Voller Tatendrang schmiedest du Pläne, machst dich auf, erlebst erste Erfolge, fühlst dich dem Himmel so nah …
… bis … ja bis du an einem bedauerlichen Montagmorgen aufwachst und so viel Alltag vor dir hast, dass deine guten Vorsätze ganz unbemerkt in Vergessenheit geraten. Und je mehr Zeit dann verstreicht, umso weniger bleibt von dem übrig, was du mal als richtig für dich erkannt hast. Nicht, weil du es nicht umsetzen willst. Oder faul bist. Oder unfähig. Sondern schlicht und ergreifend, weil dir der Alltag dazwischenfunkt. Im “Normalbetrieb” bleibt für gut gemeinte Absichten oft weder Zeit noch Kraft.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis: Von 10 Vorsätzen, die wir uns nehmen, haben nur etwa 2 die Chance, zu echten Gewohnheiten zu werden. Umgekehrt heißt das also: Rund 80% aller unserer Bemühungen, etwas zu ändern, laufen ins Leere. Und das ist umso mehr, wenn man noch zwei andere Zahlen daneben stellt:
- 43% aller unserer Handlungen gehen auf Gewohnheiten zurück.
- Und es dauert im Schnitt 66 Tage, bis uns eine neue Gewohnheit in Fleisch und Blut übergeht.
Mit anderen Worten: 8 von 10x investieren wir teils monatelang in eine Sache, die wir uns so sehr wünschen … und stehen am Ende mit leeren Händen da. Und das bezieht sich nur auf die Fälle, in denen wir uns wirklich etwas vornehmen. Ganz oft ist es auch so, dass wir einfach ein Gefühl mit uns herumtragen, dass etwas anders werden soll, aber das gar nicht praktisch machen. Was oft bleibt ist eine Ahnung, dass es anders sein könnte. Aber auch eine Ahnungslosigkeit, wie genau das aussehen kann. Auf diese Weise finden wir nur sehr schwer … Zukunft.
Das Marshmallow-Experiment
Was hilft? Diese Frage hat sich auch eine Gruppe von Forscher*innen in Stanford gestellt. Auf der Suche nach einer Antwort haben sie das sogenannte Marshmallow-Experiment durchgeführt.
Die Idee war so einfach wie kurios:
- Sie dachten sich: Es ist bestimmt lustig, Kinder auf die Folter zu spannen und zu gucken, was passiert.
- Also haben sie sie an einen Tisch gesetzt, auf dem ein Marshmallow lag.
- Dann haben sie ihnen gesagt: „Wir gehen jetzt kurz weg – und wenn du den Marshmallow nicht gegessen hast, bis wir wieder da sind, dann kriegst du am Ende einen zweiten geschenkt.“
- Kurz gesagt: Es ging um verzögerte Belohnung.
Das Ergebnis:
- Die meisten Marshmallows hatten ein sehr kurzes Leben.
- Die Kinder starrten auf die Süßigkeit. Nahmen sie in die Hand. Rochen und schleckten daran.
- Nur ⅓ der Kinder schaffte es, sich nicht über diese fluffige Köstlichkeit herzumachen.
- Ein Mädchen war besonders fuchsig: Sie aß nur das Innere des Marshmallows und hoffte, dass es keiner merkt. :-)
Das wirklich Interessante aber war die Frage: Was haben diejenigen Kinder anders gemacht, die durchgehalten haben? Die eine kurzfristige Belohnung gegen eine größere, aber längerfristige Belohnung eingetauscht haben? Die Wissenschaftler schreiben: „Sie haben sich Lieder ausgedacht. Ihre Augen zugehalten. Auf den Boden gestampft. Mit der Signal-Klingel gespielt. Die Situation versprachlicht. Zur Decke gebetet und vieles mehr. Eine der effektivsten Ablenkungstechniken stammte von einem Mädchen, die ihren Kopf fallen ließ, sich locker hinsetzte, entspannte … und einfach einschlief.“ Oder mit anderen Worten: Durchgehalten haben die, die um sich herum ein System geschaffen haben, das ihnen dabei geholfen hat, durchzuhalten. Sie haben ihre Vorstellungskraft aktiviert … und alles Mögliche dafür getan, um nicht an die Versuchung zu denken. Wer demgegenüber nur auf Willenskraft gesetzt hat, hat nicht durchgehalten.
Dein System entscheidet
Das Marshmallow-Experiment ist eine weltweit ziemlich beachtete Studie gewesen. Darüber wird noch heute heiß diskutiert. Was können wir daraus lernen? Als erstes einmal: Das Leben ist kein Marshmallow. Es geht also nicht darum, die ganze Zeit „Nein“ zu etwas zu sagen. Das wäre ziemlich frustrierend. Im Gegenteil: Es geht vielmehr darum, „Ja“ zu den Dingen zu sagen, die wir in unserem Leben haben wollen. Und genau da steckt eine Erkenntnis in dem Experiment, die ziemlich klar + relevant ist: Bei Veränderungen geht es immer auch darum, einen Weg zurückzulegen. Von Hier nach Da zu kommen. Ein gewohntes Verhalten oder eine gewohnte Haltung für etwas einzutauschen, das in der Zukunft liegt. Und das klappt nicht allein durch Wollen oder Können. Nicht allein durch Einsicht oder Verständnis. Nicht allein durch Willenskraft. Das alles ist wichtig, aber worauf es wirklich ankommt, um den Weg zu meistern, ist: dass wir ein System um uns herum schaffen, das genau die Ergebnisse / die Haltung / die Gewohnheiten fördert, die wir wollen.
Dazu ein paar ganz einfache Beispiele:
- Ich möchte mich selbst mehr wertschätzen. Und das System dazu könnte beinhalten, dass ich mich jeden Tag von einem Post-it mit Nettigkeiten über mich an meinen Wert erinnern lassen.
- Ich möchte gesünder leben. Deswegen sorge ich dafür, dass keine Chips mehr im Haus rumliegen und verabrede mich verbindlich zum Spazierengehen.
- Ich möchte fokussierter unterwegs sein. Dann stelle ich bewusst alle Mitteilungen an meinem Handy aus. Oder ich nehme mein Handy nie mit ins Schlafzimmer und nutze stattdessen einen klassischen Wecker.
Wir formen also etwas Neues um uns herum, was das alte Muster schlicht überflüssig macht – und dabei viel Willenskraft einspart. Und dabei geht es viel weniger um den Marshmallow in unserem Leben als mehr um all das, was drumherum passiert. Am Ende des Tages ist der „Marshmallow“ höchstens eine Belohnung für das, was wir investieren. Entscheidend ist aber, was wir werden, während wir auf ihn warten. Wir bauen ein System von innerer Stärke. Von Resilienz. Von Achtsamkeit. Von gezielter Willenskraft. Von Klarheit. … Und das ist von bleibendem Wert!
Leben ohne System
Dieses Prinzip habe ich hautnah in meinem Leben erlebt. Viele Jahre lange hatte ich nämlich kein solches System … und musste immer wieder erleben, wie sich einfach nie die Veränderung in meinem Alltag Bahn brach, wie ich es mir wünschte. Zugleich konnte ich erleben, wie viel reicher mein Leben geworden ist, seitdem ich aktiv an meinem System arbeite. Vor etwa 5 Jahren habe ich meinen Job gekündigt … und bin in das große Abenteuer der Selbstständigkeit gestartet. Und ich weiß es noch wie heute: An dem Tag war ich die Ruhe selbst. Was ziemlich überraschend war, weil die Monate und teils Jahre zuvor ziemlich turbulent gewesen sind … und mich zeitweise bis an meine Grenze gebracht haben. Aber als ich dann die Entscheidung getroffen habe, lag das alles plötzlich hinter mir. Und ich hatte nur noch eine Richtung im Kopf: nach vorne. In die Zukunft, die gefühlt komplett in meinen Händen lag. Das Problem war nur: Ich hatte keine Ahnung, wie das geht. Persönlich. Beruflich. Sozial. Woher auch? Ich musste nie zuvor selbst den Weg gestalten, der vor mir lag. Das wurde mir bis dahin irgendwie immer abgenommen. Ich musste von dem Tag an selbst herausfinden, wie ich mir das Leben aufbaue, von dem ich zuvor immer nur geträumt habe. Was also tun? In der ersten Zeit war ich ziemlich aufgeschmissen. Weil – wie gesagt –: Ich hatte kein System, auf das ich mich verlassen konnte. Das mir dabei geholfen hätte, eine neue Haltung und neue Gewohnheiten zu entwickeln. Ich habe zwar vieles ausprobiert, aber meist mit wenig Erfolg, weil ich schlicht noch nicht verstanden hatte, was es dafür braucht. So richtig Klick hat es bei mir gemacht, als ich ein Zitat von John C. Maxwell gelesen habe. Er sagte: “You never change your life until you change something you do daily. The secret of your success is found in your daily routine.”
Routinen und Gewohnheiten
Als ich das Zitat gelesen habe, ist mir klar geworden: Mein Leben wird nicht rein zufällig so, wie ich es gern haben würde. Und es reicht auch nicht, wenn ich ab und zu etwas tue, das ich gut finde. Es braucht mehr als. Ich hab da verstanden: Ich kann – oder besser gesagt ich muss – es aktiv gestalten. Jeden Tag. Konsistent Schritte in die richtige Richtung gehen, egal wie lang der Weg ist. Und dabei möglichst nicht jeden Marshmallow verspeisen, den mir das Leben gibt. Das war ein echter Aha-Moment. Und damit der nicht – wie so oft – wirkungslos verpufft, habe ich mir gedacht: Es brauchte eine feste Zeit und einen festen Ort. An dem ich mich daran erinnern kann, was es von mir braucht, um das Leben zu gestalten, das ich mir vorstelle. Und für mich war das: Meditation. Mit meiner heiß geliebten App “Headspace” in meinem Kuschel-Sessel. Darin habe ich meinen Raum der Veränderung gefunden.
Es hat – zugegeben – eine Weile gedauert, bis es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aber seit ich verstanden habe, was mir dieser Raum einbringt, welchen ungeheuren Wert er für mich schafft, kann ich gar nicht mehr anders, als mir diese Zeit zu nehmen. Für mich ist Meditation eine Art “Übergewohnheit” geworden. Eine Basis, auf der ich meinen Alltag baue, in dem neue Dinge gedeihen können, die mir wichtig sind. Wo ich für Selbstfürsorge sorge.
Und je mehr dieser Zeiten ich mir nehme, desto mehr Konsistenz baue ich auf und desto mehr erlebe ich das Gefühl von inneren Übereinstimmung.
- Ich finde Klarheit darüber, welche Werte und Prinzipien mir wichtig sind,
- merke, woran ich arbeiten will und was ich dazulernen kann,
- werde täglich daran erinnert, was für eine Art Leben ich führen möchte,
- und finde Motivation dafür, ins Tun zu kommen und weitere gute Gewohnheiten einzuüben, die mein Leben besser machen, die mich besser machen.
Mit Maxwell könnte man wahrscheinlich sagen:
I changed my life through something I did daily. And that was Self-Compassion.
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Titelbild + Wecker: Icons8 Team on Unsplash
Marshmallows: Joanna Kosinska on Unsplash
Lollipops: Amy Shamblen on Unsplash
Ballons: Amy Shamblen on Unsplash