Träume brauchen Räume
Genau 2826 Tage liegt mein altes Leben nun zurück.
Damals führte mich eine Kette von Ereignissen in einen Moment, der meine Zukunft ins Rollen brachte.
Es ist der 4. April 2016.
Ich stehe am Ufer von Boston, Massachusetts. Um mich herum tobt ein Schneesturm. Der Wind bläst mir bei Minusgraden nur so ins Gesicht. Der Atlantik baut unbarmherzig eine Welle nach der anderen auf und wirft sie der Küste entgegen. Meine Schuhe sind nass, mir ist kalt, ich habe Kopfschmerzen – und doch ist das genau DER Augenblick, wie ich ihn mir erhofft hatte. Wie ich ihn vor meiner Reise – zugegeben in etwas verklärter Vorstellung – auf meine Bucket-List gesetzt hatte.
Hier in Boston, dem Tor zur neuen Welt, wollte ich in meine alte Welt zurückblicken. Über mein Leben nachdenken. Meine zerfahrene Lage. Sinn und Unsinn meines Angestelltenlebens. Meine Ängste. Aber vor allem: meine Träume.
Klarheit im Schneesturm
Und tatsächlich: Mitten in dieser unwirtlichen Szenerie begegnet mir ein Gefühl von Weite.
Um mich herum Wind und Wasser, Schnee und Gezeiten, alles groß und mächtig. Was für ein Anblick! Und mittendrin nehme ich etwas wahr, das mir lange fehlte: Orientierung. Ich darf Teil dieses Geschehens sein, Platz nehmen vor dieser eindrucksvollen Kulisse, mich wie ein Kieselstein mit dem Ufer verbunden fühlen.
Das habe ich lange nicht mehr gespürt.
Von klein auf war es mir wichtig, meine eigenen Wege gehen zu können. Neues zu entdecken. Unabhängig sein zu dürfen. Und plötzlich stecke ich fest in einer Tätigkeit, die mir weder Spaß macht noch Zukunft verspricht. Bin als junger Leiter damit konfrontiert, Entscheidungen zu verteidigen, hinter denen ich nicht stehen kann. Lebe an einem Ort, der seine Inspiration verloren hat. Kann mich immer weniger mit den Werten identifizieren, die mir von außen vorgegeben werden. Entfremde mich.
Ich will raus, kann aber nicht.
Bis ich hier in Boston ganz unverhofft einen Startpunkt entdecke, von dem aus ich neu anfangen darf. Groß träumen darf. Ich spüre: Das Leben ist so viel größer als ich – doch ich verstehe: Darin ist Platz für mich. Für das, wer ich bin. Für das, wer ich sein könnte.
Und so erlebe ich beim Anblick des Ozeans, der so majestätisch vor mir tobt, die Gewissheit: Alles wird gut.
Stille. Klarheit. Gelassenheit.
Entdeckung der Träume
Heute, Jahre später, stelle ich fest: An jenem kalten Apriltag habe ich das Träumen entdeckt.
Viele Jahre meines Lebens wusste ich nicht, was das bedeutet.
Und wie auch?
Der bekannte Raum hat nun mal eine natürliche Grenze: die der eigenen Gedanken, Gefühle und Erfahrungen. Woher soll man also wissen, was darüber hinaus möglich wäre?
Wissen kann man es gar nicht. Wenn, so lässt es sich nur erahnen und erleben. Träume sind schließlich ihrem Wesen nach immer größer als das, was wir uns bereits zu Eigen gemacht haben. Wie die Sehnsucht nach dem Horizont, der sich niemals erreichen lässt. Wie die Ahnung, dass es da noch mehr geben muss. Wie Fernweh, dessen Ursprung man nicht kennt.
Genau das hat mich in meinen Schneesturm-Moment geführt. Und wenn ich in einfachen Worte fassen müsste, was ich dort erlebt habe, würde ich sagen: Ich konnte mir dort etwas vorstellen, das noch nicht da ist. Mir stand Raum zur Verfügung, um Ideen von alternativen Zukünften zu bewegen. Und ich habe die Klarheit gefunden, was mein Traum vom Leben ist und dass er in meiner Reichweite liegt.
Dadurch konnte ich den Mut fassen, klare Entscheidungen zu treffen und sie in die Tat umzusetzen: meinen Job kündigen. Sicherheiten aufgeben. Ins Ungewisse aufbrechen. Ohne Landkarte. Ohne Kompass. Ohne zu wissen, wohin mich die Reise führt. Was es mich kosten und ob es sich lohnen wird, sie anzutreten. Allein mit der Erkenntnis, dass mir fortan nur noch eine Richtung bleibt: nach vorne.
Verschiebung des Horizonts
Auf meinem Weg in den zurückliegenden Jahren habe ich aber auch gelernt: die Reise ist mehr als der Aufbruch. Ich sehe heute die unzähligen glanzlosen Schritte, die darauf folgen und das Kommende und Besondere vorbereiten. Die harte Arbeit, den der Traum vom Leben einfordert.
Klarheit und Leidenschaft sind das Fanal des Aufbruchs. Sie entstehen in Räumen, in denen wir unsere Träume entdecken können. Und es sind diese Träume, die uns vorausahnen lassen, wie unser Leben sein könnte und Anziehungskraft entfalten.
Der Horizont zieht derweil immer weiter. Träumen ist ein ‚immer wieder‘. Deswegen ist es so wichtig, mindestens genauso häufig im Hier und Jetzt anzukommen. Achtsam und dankbar zu sein für den zurückgelegten Weg. Nur so entsteht das Gefühl, dass der eigene Traum nicht die ewige Karotte vor dem Esel bleibt, sondern längst Wirklichkeit geworden ist.
Mein Schneesturm-Moment hat mir geholfen, das Neuanbrechende zu bejahen und zu zelebrieren. Seither durfte ich Dinge erleben, von denen ich vorher nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ich will daher weder die eisigen Atemzüge des Bostoner Spätwinters noch die Jahreszeiten missen, die ich seither erleben durfte.
Was aber vor allem bleibt, ist das Gefühl von Weite.
Und die Gewissheit, dass da hinten, irgendwo hinter dem Horizont, etwas auf mich wartet:
Ein Traum, den ich verwirklichen kann.
Immer wieder.
+++
Credits
Titelbild: Aditya Vyas auf Unsplash
Wellen: Tom Barrett auf Unsplash